01.04.85 21:12 Alter: 36 yrs

[Ausstellung] 24.09. bis 31.10.1985: Carl Andre – La Voie Lactée – The Milky Way – Die Milchstraße

Rubrik: Ausstellungen, Allgemeine News

 

Carl Andre, Die Milchstraße, 1985, 20 Travertinblöcke, jeweils 50 x 20 x 25 cm, Ausstellungsansicht, Kunstraum Muenchen

August 1985 - Im KUNSTRAUM MÜNCHEN liegen 20 Steinblöcke für Carl Andre bereit, die er aus Rom geschickt hat. Es sind Travertinblöcke aus dem Steinbruch Villa Alba zwischen Rom und Tivoli. Sie haben alle dasselbe Format (50 x 20 x 25,3 cm) und dasselbe Gewicht (je 60 kg).

Travertin, ein poröser Stein aus Kalktuff, wird seit der Antike sowohl für Skulpturen als auch für Bauten benutzt, heute wird er meist industriemäßig geschnitten und vor allem für Hausfassaden und als Bodenbelag verwendet.

Carl Andre, der zur Zeit in Rom lebt, hat dieses Material aus zwei Gründen für seine neuesten Arbeiten ausgesucht:

weil es industriemäßig geschnitten und damit nicht von vornherein mit Gefühlen besetzt, sondern lediglich Ausdruck unserer Zeit der maschinellen Massenproduktion ist;

weil Travertin ein charakteristisches Material für Rom ist. Die Stadt ist so voll damit, daß der Stein nicht mehr auffällt. Carl Andre will ihn wieder zu Bewußtsein bringen und mit ihm die Geschichte der Menschen, die ihn benutzten und weiterhin benutzen.

Die Ausstellung im KUNSTRAUM ist seine dritte mit Travertin nach den Ausstellungen in den Galerien Prima Piano, Rom, und Daniel Templon, Paris, beide 1985.

Während Carl Andre für die Ausstellung in Paris Würfel benutzt hat, ließ er sich für unsere Ausstellung Quader schneiden in den Maßen, die ihm schon früher bei seinen Arbeiten mit Gasbeton als optimal erschienen.

Die Steine im KUNSTRAUM sind so, wie die Speditionsleute sie hingestellt haben, ja noch kein Kunstwerk. Was also wird Carl Andre mit ihnen machen, damit Kunst entsteht?

Als er in den KUNSTRAUM kommt, weiß er zwar, wie er die Quader anordnen will, aber nur im persönlichen Arbeitsprozeß mit dem Material in dem bestimmten Raum kann seine Kunst entstehen. Sie entsteht nicht im Kopf, sondern mit dem ganzen Menschen.

Zuerst einmal macht er sich mit dem Raum vertraut, der aus drei ineinander übergehenden Zimmern besteht. Er schreitet ihn ab, er studiert die Proportionen. Dann weiß er, wohin er den ersten Stein legen will. Wie er dabei selbst sagt, gibt es nur einen richtigen Platz für seine Arbeit, und den gilt es zu finden.

Ganz ruhig arbeitet er, immer wieder prüft er die Lage der Steine, die leichten Unebenheiten des Bodens stören ihn nicht.

Um einen "Anfang zu haben", wie er bemerkt, beginnt er die Arbeit an der Wand, zwei Quader jeweils nebeneinander, bis eine Doppelreihe von 10 Steinen entsteht, die sich durch den ganzen ersten Raum bis in die Mitte des zweiten Raumes erstreckt.

Gemeinsam betrachten wir die fertige Arbeit. Die ungeheure Kraft, die von den Steinen ausgeht, spüre ich am stärksten im dritten Raum, in dem ja keine Steine mehr sind. Auf den ersten Blick läßt sich die Struktur ablesen, der Arbeitsprozeß erkennen. Das Werk wirkt nur aus sich selbst heraus. Und obgleich die Arbeit so bestimmt abgeschlossen und in sich geschlossen wirkt, habe ich das Gefühl, daß die Steine sich auf mich zu bewegen.

Während des Arbeitsprozesses hatte Carl Andre die Erinnerung an einen Film im Kopf. Es ist Luis Bunuels Film "La Voie Lactée" (die Milchstraße) von 1969, in dem, wie Carl Andre es empfindet, sichtbar gemacht wird, daß das Leben voller Wunder ist. Die Arbeit im KUNSTRAUM trägt deshalb auch den Titel "La Voie Lactée" oder "The Milky Way".

Damit will Carl Andre uns darauf aufmerksam machen, daß überall um uns herum, an ganz gewöhnlichen Plätzen, Wunder zu sehen sind, wenn wir nur die Augen aufmachen. Sensibilität für die alltäglichen Wunder will Andre in uns wachrufen. Seine Arbeit ist zutiefst mit dem menschlichen Dasein verbunden. Seine Kunst ist Ausdruck für dieses Dasein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Gerade in unserer Zeit der Reizüberflutung durch Bilder fällt es schwer, den Blick frei zu bekommen für das Wesentliche. Carl Andre's Arbeit läßt alles weg, was uns ablenken könnte; sie ist auf das Notwendige reduziert und konzentriert.

Die Anordnung der Steine in "The Milky Way'' macht die Arbeit zu einer "intensiveren" wie er sagt. Ich habe den Eindruck, daß die Steine alle Kraft des Raumes in sich zusammenziehen. Carl Andre zieht einen Vergleich aus der Atomphysik : Es bestehe ein ähnlicher Vorgang wie bei der "Kritischen Masse", kurz bevor sich durch Kernspaltung Materie in Energie umwandelt. Die Umwandlung von Masse in Energie macht die Qualität seiner Arbeit aus.

So wie sich die Lebensumstände in der Menschheitsgeschichte immer wieder durch technische Veränderungen grundlegend gewandelt haben und dadurch neue Kulturen entstanden sind, so habe sich: seiner Meinung nach, auch die Kunst verändert. Habe die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts erst die abstrakte Kunst möglich gemacht, so habe die Revolution der physikalischen Kenntnisse des 20. Jahrhunderts neue Bedingungen für die Kunst gesetzt. Diesen Bedingungen spürt Carl Andre nach mit intensivster Anstrengung. Nur mit der gleichen Anstrengung lassen sich seine Erfahrungen vom Betrachter nachvollziehen.

 

Christine Tacke.